Norman Sinn: “Ein Song funktioniert dann, wenn man ihn mit einer Gitarre am Lagerfeuer spielen kann.“

Er ist einer der spannendsten Vertreter der Erfurter Musiklandschaft und Hauptact bei den BahnhofBeats 2018: Norman Sinn stand bereits mit der Musiklegende Herbert Grönemeyer auf der Bühne, vertrat sein Heimatbundesland beim Bundesvision-Songcontest und begründete den Erfurter Zughafen gemeinsam mit Clueso und anderen Künstler*innen aus der Stadt. 2011 erschien sein Debütalbum „Was macht Sinn?“. Aktuell arbeitet der Tausendsassa an neuen Songs.


In den letzten Jahren war es sehr ruhig um dich. Was also macht Sinn?

Momentan sucht er sich ein Idyll zum Rückzug, um dem eigentlichen Kern von Musik wieder auf die Schliche zu kommen. Schon bei meinem letzten Album wollte ich meine Musik gern als Volksmusik verstehen. Damit meine ich nicht das Genre Volksmusik, sondern Musik, die die Menschen wirklich bewegt, deren Geschichten von Generation zu Generation weitergetragen werden. Die Franzosen haben mit ihrem Chanson etwas, das ergreift und eine eigene Identität hat. Die Deutschen scheinen die Pflege einer eigenen Musikkultur ein bisschen verloren zu haben. Mir geht es dabei nicht um das Deutschtum selbst, sondern um Sprache und Kultur, um die Vertonung von Poesie wie von Rilke, Heine oder Kästner, vielleicht mit dem Charme einer Edith Piaf. Aktuell gibt es so etwas nur für ein spezielles, sehr gebildetes Publikum. Hier sehe ich die Herausforderung, mit meiner Musik interessante Geschichten zu erzählen, die zum Nachdenken und zu einer Auseinandersetzung auch mit politischen, sozialkritischen Themen anregen. Musik kann Menschen dazu bringen, sich aktiv in der Gesellschaft zu engagieren und ihr Umfeld kritisch zu reflektieren. Ich komme ursprünglich aus dem HipHop – da ist diese Idee sehr präsent.

Du bist inzwischen seit über 15 Jahren als Musiker aktiv und ein musikalischer Tausendsassa: Rapper und Singer-Songwriter, Gitarrenriffs und 20er-Jahre-Anleihen – musikalischen Schubladen hast du dich immer verweigert. War das innerhalb der Musikindustrie für dich manchmal schwer durchzusetzen?

Ich sage immer gern: Ich habe versucht eine Schublade zu öffnen, und mir kam der ganze Schrank entgegen (lacht). Die Musikindustrie hat eine Definitionskrankheit, und das macht es meiner Musik schwer. Manche empfinden sie als facettenreich, andere als unentschieden und deshalb für den Konsumenten nicht greifbar. Die klare Linie meiner bisherigen Werke war einzig und allein der Sound. Ich bin bedauerlicherweise – oder zum Glück – vielschichtig interessiert. Deshalb muss ich wohl das nächste Release, das aktuell in meinen vielen Schubladen verstreut liegt, strukturierter angehen, um es dem Zuhörer einfacher zu machen. Außerdem möchte ich in einzelnen Genres etwas tiefer arbeiten. Um das zu erreichen, muss ich meine Ideen wohl auf mehrere Projekte aufteilen. Als ein Projekt kann ich mir zum Beispiel vorstellen, einen weiteren Gedichtband mit beiliegender CD herauszugeben, auf der ich meine Lyrik vertone.

Siehst du im Internet eine Chance, multimedialer zu arbeiten und nicht mehr so sehr auf Tonträger oder generell Alben festgelegt zu sein?

Auf jeden Fall. Ich finde die Möglichkeiten des Internets sehr spannend, auch wenn ich leider ein völliger Versager bin, was die sozialen Netzwerke betrifft (lacht). Ich weiß, dass meine Hörerschaft recht verstreut ist. Social Media ist eine Möglichkeit, sie besser zu erreichen. Dazu macht das Internet Musikerinnen und Musiker zunehmend unabhängig von großen Formaten, Labels und dergleichen. Man braucht diese Zwischenstellen wahrscheinlich gar nicht mehr, sondern nur noch gute Beratung. Es gibt schon heute viele offene Netzwerke für Musiker und Möglichkeiten wie Crowdfunding, über die man eigene Projekte realisieren kann. Ich denke, wenn man diese Strukturen nicht nutzt, schneidet man sich selbst aus der Musikszene raus. Ich habe da definitiv noch einige Hausaufgaben zu machen.

Fehlt Musiker*innen durch das viele Selbstmachen im Netz nicht die Zeit für die eigene Musik?

Ja, natürlich. Letztlich ist das aber vergleichbar mit einer Pflanze, die langsamer, dafür aber tiefer wächst und stabiler steht. Es ist immer besser, über die Prozesse im Hintergrund Bescheid zu wissen, sie vielleicht sogar selbst zu steuern. Eine Lösung kann es sein, sich mit anderen Musikerinnen und Musikern zusammenzutun, um wie bei einem Bauernhof die Arbeit zu teilen und die gemeinsamen ökonomischen Früchte zu ernten. Auch hier ist wieder die Kreativität des Einzelnen gefragt. Wenn ich mir die Welt ansehe, sehe ich jedoch das dringende Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft, um zusammen Herausforderungen zu lösen.

Deine musikalische Laufbahn war immer sehr von Networking, Kollektiven und gemeinsamem Musik-Machen geprägt. Welche Einflüsse hatte das auf deine Musik und deine Ansichten auf das Musikmachen?

Rückblickend war die Gründung des Zughafens als größtes Kollektiv, dem ich angehörte, wohl alternativlos. Schon zuvor war ich Teil kleinerer HipHop-Combos, wir haben auf Basketballplätzen über aktuelle Mixtapes gefreestylt. Musik ist ein gemeinschaftliches Erlebnis, und diese Zeit war ein reiches Geschenk und eine gute Schule, die mir den Weg geebnet hat, von der normalen Ausbildung zum Industriemechaniker zum Rap, zur Musik zu kommen. Die Frage ist, wie sich solche Sachen weiterentwickeln. So ein Kollektiv ist geprägt von Individualisten. Je nachdem wie ausgeprägt narzisstische Neigungen sind, schreit einer lauter, der andere leiser. Dennoch: Musik machen war schon immer ein Community-Ding. Es ist auf jeden Fall spannender, mit jemandem gemeinsam Tischtennis zu spielen, als allein gegen die Wand.

Was würdest du jungen Musiker*innen raten, wenn sie ein eigenes Kollektiv auf die Beine stellen möchten?

Seid fair zueinander. Informiert euch über rechtliche Rahmenbedingungen, die GEMA und Tantiemen, darüber, ob ein Musikverlag euch heute noch einen Mehrwert bringt. Aber lasst trotzdem die Musik an erster Stelle stehen. Ich denke, ein bisschen Chaos braucht es innerhalb von Kollektiven. Letztlich ist ein Kollektiv immer ein Risiko und basiert auf Vertrauen.

Den Zughafen habt ihr damals ins Leben gerufen, um eine musikalische Heimat zu haben, aber auch um einen Ort zu schaffen, an dem Kunst in Erfurt aktiv gefördert wird. Wie beurteilst du Popmusikförderung heute, im Internetzeitalter?

Menschen, die wahnsinnig genug sind, eigene Musik zu machen, erschaffen sich ihre alternativen Strukturen. Ansonsten gehst du halt zur Musikschule, wo du selbst einen vorgefertigten Rahmen erhältst. Kreative Menschen müssen sich ihren Raum suchen und nehmen. Die Städte und Länder müssen diese Räume aber auch anbieten. Kultur ist die einzige Möglichkeit, Demokratie zu erhalten. Was man jetzt nicht in Kultur investiert, investiert man später in Ordnungshüter. Kultur kann moralische und ethische Werte vermitteln. Werden Bildung und Kultur nur als Wirtschaftsfaktoren gesehen, dann bleibt das früher oder später auf der Strecke.

Der Schritt von Bates zu Norman Sinn Anfang der 2010er Jahre war für dich auch ein Schritt zu mehr persönlichen Themen in deiner Musik. Dennoch ist so ein Namenswechsel immer auch ein Risiko – deine alten Fans kannten dich ja unter Bates. Wie beurteilst du diesen Schritt heute?

Ich weiß nicht, ob ich durch den Wechsel meines Künstlernamens Fans verloren habe. Mir ging es dabei vor allem um Identität – Norman Sinn, das steht schließlich in meinem Personalausweis. Meine Erkenntnis ist, dass die Verpackung eigentlich fast egal ist. Es geht um den Inhalt, und Namen sind nur Schall und Rauch. Gleichzeitig eröffnet mir der Namenswechsel aber auch kreative Möglichkeiten. Vielleicht ist Bates gerade im Urlaub auf irgendeiner Insel und sucht Doppelreime auf das Wort „Tsunami“. Irgendwann kommt er möglicherweise zurück und nimmt Norman Sinn auseinander, weil ihm diese Popgeschichten überhaupt nicht gefallen. Das ist eine ideale Grundlage für eine spannende Geschichte, die ich in meiner Musik aufarbeiten kann. Die Herausforderung für mich liegt darin, Unterhaltung mit inhaltlicher Tiefe zu verbinden. Und das nach Shakespeare. (lacht)

In Zeiten, in denen die Aufmerksamkeitsspanne bei Menschen immer geringer zu werden scheint, funktioniert das offenbar am besten über Live-Erfahrungen…

Ja, das glaube ich auch. Mir wird immer wieder gesagt, dass die Sachen, die ich freestyle – also als Rapper improvisiere – die energetischsten sind. Authentischer kann man keine Kunst machen. Geschriebene Songs kann ich nur immer wieder reproduzieren, manchmal gut, manchmal schlecht. Ihre Performance ist immer nur eine Kopie von etwas, das ich zu einem anderen Zeitpunkt gefühlt, gedacht oder gemacht habe. Ein Freestyle dagegen spricht immer aus dem Moment heraus. Als Zuhörer bleibt man dran: Kriegt er den Bogen, stolpert er über den Reim, wo geht es als nächstes hin? Diese Power kriege ich selbst oft gar nicht mit. Allerdings versuche ich verstärkt, sie in meine musikalische Zukunft mit einzubinden. Ich denke, eine Musikwelt ohne Live-Erfahrungen wird es nie geben.

Du wirst als Headliner beim Thüringer Landesfinale der local heroes spielen. Welche Chancen bieten Newcomer-Contests jungen Künstler*innen?

Ich glaube, jede Herausforderung, die man angeht, ist eine wertvolle Erfahrung. Selbst Umwege führen zu Ortskenntnis. Für die meisten geht es beim Musikmachen ja nicht darum, abzusahnen, denn viel Geld verdienen damit nur Wenige. Aber eine schöne Zeit haben, neue Leute mit der eigenen Musik erreichen und bewegen, das ist möglich. Musik ist eben auch Medizin, ein Spiegel, ein Trostpflaster, Koffein – für die Hörer kann es alles sein.

Wie hat sich die Musikszene in Erfurt in den letzten Jahren verändert?

Noch immer gibt es eine Menge Clubs und Leute, die etwas starten und um kulturelle Räume kämpfen. Das ist schön zu sehen. Aktuell hat Erfurt vor allem eine sehr aktive DJ-Szene. Dass das Mischen von Musik anderer Urheber auch eine Form des Musizierens ist, musste ich erst verstehen. Aber auch da gibt es immer wieder Leute, die über das DJ-ing zum Produzieren eigener Musik kommen und komplexeste Werke schaffen.

Neben deiner eigenen Musik gibst du auch Rap-Workshops für Kinder und Jugendliche. Wie nimmst du die Musik wahr, die diese Kids hören?

Im HipHop, den die jungen Leute hören, gibt es heute viel Sexismus und Gangster-Zeug. Das möchte ich nicht generell verurteilen. Die Kids in meinen Workshops fordere ich aber dazu auf, von sich selbst zu sprechen und nicht nur ihre Vorbilder zu imitieren. Im HipHop geht es um Authentizität. Der Versuch, die Leute in ihrem Leben abzuholen, stößt automatisch eine Auseinandersetzung an. Auf der anderen Seite biete ich den Kids auch an, das Gangster-Thema kreativ anzugehen, und sich zu fragen, wie so ein echter Gangster wohl privat zu seiner Frau wäre. Die Kids sollen lernen, dass das eine Rolle, ein Produkt ist. Letztlich entscheiden die Kids, worüber geschrieben wird. Ich sage ihnen auch nicht, dass sie das Wort „Scheiße“ nicht benutzen dürfen, bitte sie aber, es kreativ zu verwenden, auf dass es vielleicht noch eine andere Tür aufmacht als die zur Toilette. (lacht)

„Each one teach one“ heißt es im HipHop - Was lernst du bei deinen eigenen Workshops?

Nicht voreingenommen zu sein und zu denken, man weiß schon alles. Die Kids fordern mich dazu heraus, mehr zuzuhören, weniger zu quatschen und jedem sein eigenes Tempo zu lassen. Bei meinen Workshops ist das, was ich mache, nicht automatisch richtig. Ich habe zum Beispiel meinen eigenen Flow, meinen eigenen Rhythmus im Rap, lasse die Kids aber erstmal selbst rappen, um mir zeigen zu lassen, wie sie sich ihren Text gedacht haben. Mein Feedback ist dabei immer nur eine Empfehlung, keine Vorgabe.

Schon immer bist du viel gereist. 2016 warst du mit Viva Con Agua in Äthiopien, wo auch ein gemeinsamer Song mit Samuel Yirga, Clueso und Tim Neuhaus entstanden ist. Inwiefern hat sich diese Reise auf deine Musik ausgewirkt?

Das war eine großartige Erfahrung, die ich nie vergessen werde! Die Menschen prägen einen – was die dort auf die Beine stellen, ist unglaublich. Gerade auch mit dem wunderbaren Abera Mola Musik zu machen, einem der größten Stars des Landes, den man zu Beginn und zum Ende des Musikvideos zu unserem Song sieht, hat mich sehr geprägt. Ich habe gelernt, dass alles, was uns umgibt, Musik ist. Hier in der Stadt ist es vielleicht der Lärm der Straßenbahn, aber selbst die Geräusche eines Vogels kann man in Frequenzen und Rhythmen packen. Zu dieser unaufgeregten Art des Musizierens möchte ich zurückkehren, diesen Zauber einfangen. Musik kann man letztlich mit den einfachsten Mitteln machen, fernab vom Popzirkus. Natürlich sind auch David-Bowie-artige Bühnenbilder spannend. Aber ein Song funktioniert dann, wenn man ihn mit einer Gitarre an einem Lagerfeuer spielen kann.

Einige Songs von dir ist auf Zugreisen entstanden. Gibt es eine Bahnstrecke in Deutschland, die du besonders inspirierend findest?

Da fällt mir sofort die Strecke zwischen Erfurt und Eisenach ein. Manchmal habe ich extra die Regionalbahn genommen, die Leute beobachtet, die unterwegs ein- und aussteigen und das Land an mir vorbeifliegen gesehen. Heute fahre ich meist ICE, das geht schneller. In einem Zug musst du nicht auf die Straße schauen und kannst dich treiben lassen. Du siehst romantische Motive – jemand holt das Korn ein, du beobachtest verlorene Seelen auf den Bahnsteigen. Solche inspirierenden Bilder sind ein Geschenk. Auch diese markante Tonleiter-Folge beim Anfahren mancher E-Züge ist ein kreativer Triggerpunkt. Oft summe ich irgendwelche Songideen in mein Telefon und setze mich zu Hause direkt mit einer Idee ans Keyboard.

Interview: Lina Burghausen (Mona Lina)

Titelbild: Frederyke Sauerbrey